9
Hotellerie
STAMMPLÄTZE UND ANDERE VORLIEBEN
ESSBIOGRAFIE
Spezielle Gerichte und Rituale schaffen das
Gefühl von Heimat, Vertrautheit, Identität,
Sicherheit und Zugehörigkeit.
Erst letztens war eine Bewohnerin bei mir und
war sehr traurig. Sie erzählte mir, dass sie, seitdem
sie wieder bei uns eingetreten ist nicht an ihrem
alten Stammplatz sitzen konnte, da er schon
reserviert war. Alles fand sie plötzlich schlecht
und sie war jeden Tag mit Allem unzufrieden. Als
die Leitung Gastronomie es ihr dann doch ermöglichen
konnte, wieder an ihren Stammplatz
zu sitzen, war sie überaus glücklich und bedankte
sich mehrfach. Plötzlich waren all ihre sonstigen
Probleme gar nicht mehr so schlimm und ich
sehe sie nun täglich strahlend und zufrieden.
Diese persönliche Geschichte zeigt auf, wie wichtig
die Essbiografie mit allen ihren Facetten ist.
Für uns war diese Geste eine Kleinigkeit, aber für
die Bewohnerin das Wichtigste in dem Moment.
Jeder Bewohnende hat seine ganz persönliche
Essbiografie. Studien haben erwiesen, dass die
Essbiografie in den ersten 20 bis 30 Jahren geprägt
wird und später keine grossen Veränderungen
mehr eintreten. Menschen essen am liebsten,
was sie kennen. Deshalb ist es wichtig, dass
wir verstehen, wie unsere Bewohner aufgewachsen
sind. Die Bewohner der älteren Generation
wurden rund um das Thema Essen meist streng
erzogen. Das Essen war damals teuer und nicht
im Überfluss vorhanden. Es war eine Schande,
etwas fortzuwerfen und oft musste man das essen,
was gerade vorhanden war. Je nach Familieneinkommen
war das Essen knapp und mit der
Sorge belegt, immer genügend dazuhaben. Diese
individuellen Erfahrungen prägen das Essverhalten
eines jeden Einzelnen von uns und man
entwickelt Vorlieben, Ablehnungen und Rituale.
Ohne Verständnis für die
Essbiografie kann es kein Verständnis
für das Essverhalten
geben.
Für die Sicherstellung einer bedürfnis- und bedarfsgerechten
Ernährung ist die Erhebung der
Essbiographie eine gute Möglichkeit. Angenehme
Erinnerungen regen den Appetit an, verbessern
die Nahrungsaufnahme und steigern das
Wohlbefinden. Unangenehme Erinnerungen
nehmen die Lust am Essen, belasten die Nahrungsaufnahme
und führen zu Stress. Zudem
dient die Erhebung der Essbiografie als Grundlage,
um bekannte Speisen auf den Menüplan zu
bringen und sie so zuzubereiten, wie sich das die
Bewohnenden wünschen. Einerseits erwecken
bekannte Speisen bei den Bewohnenden Erinnerungen
und nostalgische Gefühle. Andererseits
ist dies, nebst der vollwertigen Zubereitung, eine
gute Prophylaxe für Mangelernährung und Erhöhung
der Lebensqualität.
Die Essbiografie wird direkt in den ersten Tagen
nach Eintritt erhoben. Wenn der Bewohner nicht
mehr antworten kann, beziehen wir die Angehörigen
mit ein. Unser Fragebogen wurde in Anlehnung
an den Fragebogen von GHD Deutschland
entwickelt und unterteilt sich in Themenbereiche
wie Allgemeine Informationen, Tischatmosphäre,
Rituale, besondere Anlässe, Vorlieben,
Abneigungen und Verbote. Dieser Fragebogen
zeigt auf, dass es sich in einer Essbiografie eben
nicht nur um die Vorlieben und Abneigungen
geht, sondern um noch vieles mehr, wie zum Beispiel
Rituale, Gesellschaft und die Atmosphäre
am Tisch.