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RECHT & PRIVAT
1-2018 mandat
Familienrecht im
Wandel der Zeit
Herr Vetterli, Sie präsidierten
zwanzig Jahre
lang die Familienrechtskammer
am Kantonsgericht
St.Gallen. Ganz
einfach gefragt: Was ist
denn heute unter einer
Familie zu verstehen?
Der Schriftsteller Kurt Tucholsky
behauptete einmal, eine
Familie sei «eine Ansammlung
von Menschen verschiedenen
Alters und Geschlechts, welche
die Hauptaufgabe darin
erblicken, ihre Nasen in die
Angelegenheiten der anderen
zu stecken». Psychologisch
betrachtet ist jedes intime
Beziehungssystem, das sich
durch Abgrenzung nach aussen,
Nähe gegen innen und
zeitliche Konstanz auszeichnet,
eine Familie. Juristisch gesehen
gilt als Familie aber nur
eine auf bestimmte Weise begründete
und damit anerkannte
Gemeinschaft, die staatlich
geschützt und gefördert wird.
Im Mittelpunkt steht noch immer
die durch Heirat legalisierte
Partnerschaft eines Mannes
und einer Frau, die zusammen
mit ihren minderjährigen Kindern
unter einem Dach leben.
Das Gesetz schreibt ihnen freilich
nicht vor, wie sie miteinander
umzugehen haben; es
kümmert sich paradoxerweise
erst dann um die Ehe, wenn
diese gescheitert ist. Nichteheliche
Gemeinschaften, Fortsetzungsfamilien,
Stieffamilien,
Pflegefamilien erhalten gar keine
Aufmerksamkeit und geniessen
keinen Schutz. Immerhin
gibt es nun konkrete Vorschläge,
die Ehe für alle, auch für
gleichgeschlechtliche Paare zu
öffnen, und noch vage Ideen,
vermögensrechtliche Folgen
nicht mehr an den formellen
Status, sondern an das reale
Zusammenleben zu knüpfen.
Welches war aus Ihrer
Sicht der grösste Fortschritt
im schweizerischen
Familienrecht?
Das war in meiner Zeit wohl
die Revision des Scheidungsrechts.
Vorher wurde die Ehe
noch als Institution verstanden,
als Vereinigung fürs ganze
Leben, die nur aus bestimmten
Gründen vorzeitig aufgelöst
werden konnte. Mit dem neuen
Scheidungsrecht ist sie zu einem
Dauerschuldverhältnis geworden,
welches im gegenseitigen
Einverständnis jederzeit
beendet oder auf bestimmte