Essen als genussvolles Erlebnis
Als Kind habe ich gemeinsame
Familien
Mahlzeiten (oft sonntags)
als eine Zeit des Wiederauflebens
und die Chance erlebt,
uns
wieder miteinander zu verbinden.
Es war ein Moment, an dem mein kleiner «Stamm»
Geständnisse, Bedürfnisse, Freuden und Trauriges
miteinander teilte. Wo Vergebung entstand und uns
die Weisheiten der Grosseltern vemittelt wurden.
Es war der Ort, an dem sich niemand angegriffen,
verurteilt,
schüchtern oder beschämt fühlte. Jeder
befreite
sich von negativen Gefühlen, die sich im
Laufe der Woche angesammelt hatten. Alle teilten
mit, wie sie sich fühlten und versorgten sich und
die anderen Familienmitglieder
mit positiver und
warmer Energie. Vielleicht ist das der Grund, warum
die gemeinsamen Familien-Mahlzeiten als eine Art
«sozialer Impfstoff» bezeichnet werden können, der
uns früher,
aber auch heute vor vielen mentalen
Gefahren
schützt. Die Familie
arrangierte sich neu
und fand in einem behüteten
Nest wieder zueinander.
Diese Zeit, in der wir Mahlzeiten gemeinsam
teilten und die in dieser Form nicht mehr zurückkommt,
war die perfekte
Gelegenheit,
Momente
der Freude mit unseren Liebsten zu teilen.
«Wenn ihr jungen Leute wüsstet und wenn wir alten
Leute noch könnten» – war ein Satz, den ich damals
oft von meinem Grosi hörte und der mir bis heute in
Erinnerung ist. Ein Satz den ich zudem besser
verstehe
als je zuvor.
2019 nahm ich in meiner Funktion als Pflegefachfrau
und Gruppenleiterin am Prosenio-Projekt «Service
und Tischkultur» teil. In einer interdisziplinären,
standortübergreifenden Arbeitsgruppe, bestehend
aus Berufsleuten mit unterschiedlichsten Kompetenzen,
sollte ein Konzept zur Esskultur entwickelt
werden.
Von der Vision «Bei uns wird das Essen zu einem
genussvollen Erlebnis» bis zur Mission lag ein
langer
Weg vor uns.
Wie sollen wir unseren Bewohnenden mehr Freude
beim Essen bieten? Wie wird die Gemeinschaft am
Besten gestaltet? Können wir im Rahmen unserer
Möglichkeiten die Individualität jedes Einzelnen so
berücksichtigen,
wie es von uns erwartet wird?
Jedes Treffen der Arbeitsgruppe hat uns so sehr
motiviert,
dass immer neue kreative Ideen entstanden
und ein interessanter Austausch stattfand. Es
war schön zu sehen, wie alle «Akteure» die gemeinsame
Vision teilten und sich aus eigenen Expertisen,
wertvollen
Erfahrungen
und Überlegungen aller ein
gutes Konzept
entwickelte.
In den verschiedenen Workshops wurden die
Leitsätze
und Kriterien für einen professionellen
Service erarbeitet. Die Aufgaben des Fach- und
Assistenzpersonals
Betreuung und Pflege wurden
nach Kompetenzen definiert, ebenso die Unter
stützung
bei der Nahrungsaufnahme geregelt.
Die Gastgeberolle wurde im Konzept neu interpretiert
und wird nun im Alltag mit Freude gelebt. Hinter
einem
Gastgeber steckt sehr viel mehr als man auf
den ersten Blick erwarten würde. Die Grundlage
bildet folgender Satz aus unserem Leitbild: Unsere
Tätigkeit gründet auf Respekt vor der Einzigartigkeit
des menschlichen Lebens und der Achtung vor der
individuellen
Lebensgeschichte. Dies bedeutet für
uns, die Wünsche der Bewohnenden, wie weit das
«sich kümmern» geht, zu respektieren.