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Dennoch verabschiedete der
Bundesrat am 28. August 2019
eine Botschaft6 und einen Revisionsentwurf7
ans Parlament,
wobei in zentralen Punkten
– praktisch ausschliesslich
zulasten der Beschuldigten8
– erheblich vom Vorentwurf
abgewichen worden
ist. So wurde insbesondere
die Regelung
betreffend die
Einschränkung der
Teilnahmerechte der
beschuldigten Person
an Beweiserhebungen
weiter und deutlich
verschärft.
Erstrat in der parlamentarischen
Beratung war der Nationalrat.
Dessen Rechtskommission
(RK NR) schlug im vergangenen
Herbst diverse Änderungen
am Botschaftstext vor9, welche
in der Frühjahrssession 2021
vom Nationalrat einlässlich
beraten worden sind. Derzeit
liegt das Geschäft beim Ständerat,
dessen Rechtskommission
zunächst Anhörungen von
Vertretungen der Kantone, der
Staatsanwaltschaft, der Richterschaft,
der Anwaltschaft sowie
der Wissenschaft durchgeführt
hat und die Detailberatung
demnächst aufnehmen wird.10
2. Ergebnisse der
Beratungen im
Nationalrat
2.1 Vorbemerkungen
Aus Sicht der Verteidigung ent
hält der Entwurf des Bundesrates
diverse Bestimmungen,
welche massgebliche Verschlechterungen
für die beschuldigte
Person beinhalten.11
Nachfolgend werden zu ausgewählten
Punkten die – aus
Sicht der Verteidigung teilweise
erfreulichen, teilweise ernüchternden
– Ergebnisse der
Beratungen im Nationalrat beleuchtet.
Diese wiederspiegeln
den aktuellen Stand des Gesetzgebungsprojektes.
THEMA
Der Bundesrat
verabschiedete
am 28. August
2019 eine Botschaft und
einen Revisionsentwurf
ans Parlament.
2-2021 mandat
2.2 Einschränkung der Teilnahmerechte
der beschuldigten
Person (Art. 147a EStPO12)
Die vom Bundesrat vorgesehene
Beschränkung des Teilnahmerechts
der beschuldigten
Person in der Gestalt, dass
diese von einer Einvernahme
ausgeschlossen werden kann,
solange sie sich «zum Gegenstand
der Einvernahme nicht
einlässlich geäussert hat», höhlt
das in Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO
garantierte Aussageverweigerungsrecht13
der beschuldigten
Person komplett aus bzw. führt
faktisch zu einer Mitwirkungspflicht.
Damit verletzt der Regelungsvorschlag
des Entwurfs
grundlegende strafprozessuale
Prinzipien in ihrem Kern14 und
ist insbesondere auch mit dem
völker- und verfassungsrechtlich
garantierten Recht auf ein
faires Verfahren unvereinbar.
Dies hat wohl auch die RK NR
erkannt, hat sich doch eine
Mehrheit für die Streichung der
vom Bundesrat vorgesehenen
Bestimmung in Art. 147a E-
StPO ausgesprochen. Daneben
gab es allerdings drei weitere
Minderheitsanträge, darunter
auch den Antrag auf Annahme
der Bestimmung gemäss Botschaft.
15
In der Schlussabstimmung im
Nationalrat hat sich erfreulicherweise
der Mehrheitsantrag
gegenüber dem Minderheitsantrag
III mit 103 zu 85 Stimmen
durchgesetzt. Abzuwarten
bleibt nun die Diskussion
im Ständerat und dessen Entscheid.
Dabei ist aus rechtsstaatlicher
Sicht zu hoffen,
dass es bei der vom Nationalrat
beschlossenen Streichung
von Art. 147a E-StPO bleibt.
2.3 Haftgrund der qualifizierten
Wiederholungsgefahr
(Art. 221 Abs. 1bis E-StPO16)
Das bisherige Recht verlangt in
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO für
die Annahme des Haftgrundes
der Wiederholungsgefahr drei
(mutmassliche) Delikte: das
vergangene, das untersuchte
und das künftig befürchtete,
wobei alle drei gleichartig sein
müssen. Nachdem das Bundesgericht
in Missachtung des
Wortlauts bereits Entscheide
gefällt hat, in welchen trotz fehlendem
Vordelikt die Annahme
von Wiederholungs- bzw. Fortsetzungsgefahr
allein wegen
des angeblich begangenen und
des künftig befürchteten Delikts
für zulässig erklärt wurde17, soll
nun gemäss Entwurf des Bundesrates
der neue Haftgrund
der qualifizierten Wiederholungsgefahr
in Art. 221 Abs. 1bis
E-StPO aufgenommen werden,
welcher auf das Erfordernis der
begangenen Vortat verzichtet.
Obwohl die Botschaft selbst
darauf hinweist, dass es sich
beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr
in erster Linie um
6 BBl 2019 6697 (zit. Botschaft).
7 BBl 2019 6789.
8 Vgl. dazu eingehend NIKLAUS
RUCKSTUHL, Für Beschuldigte
nichts als Verschlechterungen, in:
plädoyer 1/2020, S. 32 ff.
9 Übersicht über die Anträge der
Kommission für Rechtsfragen des
Nationalrates vom 6. November
2020; abrufbar unter https://www.
parlament.ch/centers/eparl/curia/
2019/20190048/N1-1%20D.pdf
(zit. Übersicht Anträge RK NR).
10 Medienmitteilungen der Kommission
für Rechtsfragen des
Ständerates vom 13. April 2021
sowie vom 21. Mai 2021; abrufbar
unter https://www.parlament.ch/
de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/
geschaeft?AffairId=20190048.
11 Vgl. dazu ausführlich auch NIKLAUS
RUCKSTUHL/KONRAD JEKER,
Revision StPO – wohin gehen wir?,
in: Anwaltsrevue 1/2021, S. 5 ff.
12 Vgl. für den Wortlaut BBl 2019 6793.
13 Die Bundesverfassung sowie die
EMRK sehen nicht explizit ein Recht
auf Aussageverweigerung bzw. ein
Verbot des Selbstbelastungszwangs
vor. Der sog. «nemo tenetur-Grundsatz
», also das Verbot des Zwangs
zur Selbstbelastung, wird jedoch
richtigerweise aus Art. 31 Abs. 2
und Art. 32 Abs. 1 BV sowie aus
Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleitet und
ist insofern sowohl verfassungs- als
auch völkerrechtlich garantiert.
14 RUCKSTUHL/JEKER, a.a.O., S. 7;
RUCKSTUHL, a.a.O., S. 32 f.
15 Übersicht Anträge RK NR, S. 19.
16 Vgl. für den Wortlaut BBl 2019 6794.
17 BGE 137 IV 13, E. 2-4, BGer
1B_103/2013 vom 27. März 2013,
E. 6.3 und 6.4; BGer 1B_160/2016
vom 17. Mai 2016, E. 2.2.1.
/N1-1%20D.pdf
/geschaeft?AffairId=20190048