
Editorial
Liebe Leserin,
lieber Leser
«Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.»
Das ist das aktuelle Mantra der Digitalisierung. «Und
wo bleibt da der Mensch?», hört man daraufhin
hinter vorgehaltener Hand fragen. Diese Frage ist verständlich,
denn sobald Prozesse und Verfahren
minimalen Strukturen gehorchen, können sie auch
digitalisiert sowie automatisiert werden und den
Menschen überflüssig machen. Der Mensch bleibt umgekehrt
der Maschine gegenüber nur dort überlegen,
wo er sich zum Beispiel durch kreativen Musterbruch,
emotionale Intelligenz und «Esprit» auszeichnet.
Erinnern wir uns: Im Kanton Graubünden gab es bis
1925 ein allgemeines Automobilfahrverbot – aus
Angst vor Unfällen. Knapp hundert Jahre später ruft
die Digitalisierung
Ängste hervor. Dabei war es
damals
und ist es heute weniger die Technik selbst,
die uns beunruhigt, als die Unsicherheit einer
unbekannten
Zukunft.
Unsicher ist zum Beispiel, was
und wie wir künftig arbeiten werden, was wir heute
unseren
Primarschülern sagen, die grossteils einmal in
Berufen arbeiten werden, die heute noch gar nicht
existieren. Unsicherheiten entstehen, wenn die Digitalisierung
zwar neue Jobs kreiert, aber jene, deren
Jobs durch die Digitalisierung überflüssig geworden
sind, sich dafür nicht eignen werden. Unsicher-
heiten entstehen auch, wenn in unserer Gesellschaft
neue Möglichkeiten des Dialogs, der Teilhabe
und des Engagements neuen Ausschlussrisiken gegenüberstehen.
Wir dürfen nicht blauäugig durch
die Digitalisierung
schlittern nach dem Motto: «Wir
haben uns komplett verlaufen, kommen aber gut
voran», sondern müssen neben all der Technikeuphorie
Fragen aufnehmen und an Antworten
arbeiten.
Und dies im Bewusstsein, dass wir alle Treiber der digitalen
Transformation sind (oder wie sonst ist es
zu erklären, dass sich Hunderte von Kaufwilligen vor
wenigen Wochen wieder nachts um 03.45 Uhr in
die Warteschlange vor dem Apple Store in Zürich einreihten,
um das neue iPhone XS zu erstehen?).
Wie können wir die digitale Transformation
verantwortungsvoll
gestalten? Nicht, indem wir noch
mehr Apps herunterladen, sondern indem
wir Verantwortung
übernehmen und uns wichtige
Prof. Dr. Sebastian Wörwag, Rektor FHS St.Gallen
überfachliche Kompetenzen aneignen, wie beispielsweise
kritisches Denken, Kommunikation, Kooperation
und Kreativität. Das Ziel muss sein, dass auch
künftig (nicht weniger) Menschen mit einer reflektierten
Urteilsbildung
auf der Basis kommunikativen
Handelns miteinander an kreativen Lösungen für
eine bessere Gesellschaft arbeiten. Nicht mehr, aber
auch nicht weniger.
In dieser Ausgabe des substanz finden Sie kritisch-reflektierte
Diskussionsbeiträge darüber, welche Kompetenzen
Sie künftig brauchen, was das digitale
Zeitalter für die Führung bedeutet, wie sich KMU auf
den digitalen Wandel vorbereiten, wie ein digitaler
Bürgerdialog in Gemeinden lanciert werden kann, wie
sich Digitalisierung in und auf die Pflege auswirken
wird und was unter einer «Sozialen Arbeit 4.0» zu verstehen
sein wird.
Ich wünsche Ihnen – egal ob Sie die digitale Version
des substanz lesen oder noch klassisch das Printerzeugnis
in Händen halten – eine anregende Lektüre.
Sebastian Wörwag,
Rektor