
«DER NACHTDIENST IST WOHL ERST
DANN VOLLKOMMEN, WENN NICHTS
BESONDERES PASSIERT.»
Dauernachtwachenteam
von sechs
professionellen Pflegefachpersonen
und 120 pflegebedürftige Personen.
Pro Nacht befinden sich drei Nachtdienstler
im Dienst. Ich war zunächst
der beobachtende Praktikant, der
nacheinander mit allen Nachtdienstlern
(be)wachen durfte.
***
Warum nun immer diese Lustlosigkeit
und diese Antriebsarmut? Wie
ein roter Faden durchzog das damit
verbundene Depressiv-Sein, dieses
Eingeschränkt-Sein meine Tages- und
Nachtzeit. Den damit verbundenen
leiblichen Ausdruck brachte ich mit
meiner permanenten Müdigkeit in
Verbindung. Für mich diagnostizierte
ich eine «Nachtwachen-Fatigue», welche
dafür sorgte, dass die Tage einfach
so an mir vorbeizogen oder wie
es ein junger Nachtdienstkollege formulierte:
«Mein Leben flieht vor mir.»
Die Zeichen und Anzeichen, die sich
zu allen Nachtzeiten in unterschiedlicher
Intensität zur Müdigkeit appräsentierten,
nahm ich auch bei den anderen
Nachtdienstlern wahr.
Erkenntnis – Nachtarbeit in der Pflege
Drei fast flüchtig-routinierte Durchgänge
markieren die durchstrukturierte
Nacht im Pflegeheim. Jeder
Durchgang wird seitens der Nachtdienstler
mit einem anderen Schwerpunkt
belegt, was sich ebenfalls durch
ein verändertes performatives Handeln
abbildet. Zu allen Nacht- und
Durchgangszeiten und trotz der performativen
Unterschiede zwischen
den Nachtdienstlern scheint ihnen die
Wahrung bzw. die Konstruktion einer
nächtlichen Stille heilig zu sein. Denn
der Nachtdienst ist wohl erst dann
vollkommen und besonders, wenn er
eben für den Nachtdienstler ruhig verläuft
und nichts Besonderes passiert.
Sechs Nachtdienstler und ich, die für
Ruhe sorgen und somit erstillende
Praktiken nutzen, um einen – ihren
– Ordnungszustand zu wahren bzw.
herzustellen. Die wahrgenommenen
und beobachteten Praktiken wirken
hochgradig habitualisiert und führen
bei den Personen mit Demenz zu einer
Erhaltung der Ruhe und Stille,
aber auch zu einer Begrenzung, Veränderung
und Unterdrückung eines
(vermeintlich) unruhigen Verhaltens.
Somit stellen sie auch eine Scheinruhe
bzw. Scheinstille her. Es gilt noch zu
klären, inwieweit diese verordnete
Ruhe und die damit im Zusammenhang
stehenden Praktiken aus der Perspektive
der Nachtdienstler und der
bewachten Personen mit Demenz als
«Gewalt» erlebt, erfahren und erlitten
werden und «Gewalt» als Mittel bzw.
als Tätigkeit oder als allnächtliches
Phänomen verstanden und gesehen
wird (Hitzler 1999, 2003).
***
Das nächtliche Changieren zwischen
Ruhe und Unruhe, Schnelligkeit und
Langsamkeit, Lustlosigkeit und Engagement,
Müdigkeit und Wachheit,
Routine und Improvisation, Macht
und Machtlosigkeit, Fürsorge und
Anzeichen von Gewalt sowie das Passagieren
zwischen Alltags- und Allnachtssituationen
und dessen leiblichen
Auswirkungen möchte ich im
Sinne der lebensweltanalytischen
Ethnographie weiter erkunden und
rekonstruieren.
Deswegen werde ich weiterhin mit der
Buslinie 27 zum Pflegeheim fahren,
gegen 21:15 Uhr den stillen, erstillten
Wohnbereich betreten und in die
Stille hören, wie die Kollegin des Spätdienstes
mir im Vorbeigehen die stereotype
Floskel zuruft: «Ich wünsche
Dir einen ruhigen Dienst!»
Literatur auf Nachfrage beim Verfasser erhältlich.
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SUBSTANZ