
Schlusspunkt – Kolumne
Nicht kapitulieren,
Mensch!
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SUBSTANZ
Künstliche Intelligenz macht Karriere.
Erst schlug sie den Schachweltmeister,
dann stellte sie GO-Profis
in den Schatten, jetzt überflügelt sie
Ärzte: Dr. Watson, aktueller IBM-Star,
schafft beim Diagnostizieren von Tumoren
eine Trefferquote von 90 Prozent,
Onkologen bringen es auf 70
Prozent. Was bleibt dem Menschen?
Abdanken? Bedingungsloses Grundeinkommen?
Zukunft als Hanswurst
von Algorithmen, am Gängelband
von Tech-Bonzen in USA/China?
Mein Vorschlag: Natürliche Intelligenz
steigern! Die Intelligenz der Maschine
ist etwas einseitig. Im Ozean
der Daten sortiert, analysiert und
kombiniert sie schneller als jeder
Mensch, fehlerfrei, unermüdlich. Ja,
mit Daten, auch sprachlichen, fängt
sie Erstaunliches an. Doch jetzt mal
die Frage: Was kann sie mit sich anfangen?
Hatte es die Maschine schon mal
schwer mit sich? Oder lustig? Schon
mal abgestürzt? Verliebt? Hat sie etwas
vor? Eine Leidenschaft? Ahnt sie,
dass sie übermorgen entsorgt wird?
Sie kann nicht einmal schlafen, träumen.
Für all das ist sie zu perfekt. Sie
hat, was sie braucht, begehrt nicht,
was sie nicht hat, ein praktisches Ding
ohne Alpträume und Sehnsüchte. Probleme?
Kennt sie nicht. Schon gelöst.
Der Punkt ist doch: Bisher definiert
sich der Mensch über rationale Intelligenz.
Jetzt bauen wir Maschinen, die
uns genau darin überlegen sind. Daraus
könnten wir zweierlei schliessen:
1. Aha, rein rational sind wir nicht
Klassenerste, also übergeben wir diesen
Job besser der Streber-Kollegin
Maschine. 2. Damit kämen wir endlich
dazu, unsere übrigen Intelligenzen
zu aktivieren: die kreative, die
emotionale, die künstlerische, die passionierte,
die humoristische …
Das ergäbe eine neue Symbiose
Mensch/Maschine. Zu Dr. Watson
wird die kluge Ärztin sagen: Okay, Kollege,
mach, was du besser kannst, so
kriege ich mehr Zeit für meine «ärztliche
Kunst», für das, was nicht strikt
objektivierbar ist, weil jeder Patient
Ludwig Hasler,
Publizist und Philosoph
ein Sonderfall ist, weil erfolgreiche
Therapie selten bloss ein Extrakt der
Wissenschaft ist, sondern eine erfahrungsgesättigte
persönliche Affäre.
Davon hat weder Dr. Watson noch
Dr. Google den geringsten Schimmer.
Weil beide selber nie lahmen, nie leiden,
nie sterben.
Dito Pfleger. Tritt mit Freund Pflegeroboter
ins Zimmer, der übernimmt
Umbetten, Zimmer aufräumen, Protokollieren
etc., während der Pfleger
sich der Patientin so zuwendet, dass
sie sich wahrgenommen sieht und Zuversicht
fasst. Dito Lehrerin. Übergibt
manche Brocken des Standardunterrichts
interaktiven Programmen auf
Laptops, sie hat Zeit für Motivation,
individuelles Coaching, Bildung, sie
wirkt als leibhaftes Lernziel. Architektin?
Lässt BIM arbeiten, eine tolle architektonische
Software, sie gewinnt
Spielraum fürs Denken: Was braucht
ein Mensch zum Wohnen, Arbeiten,
Vergnügen? Der Schreiner ist schon
soweit: Er programmiert Maschinen,
die das Werk fertigen; er versteht sich
als kreativer Designer, die Maschine
führt aus.
Bloss jetzt nicht kapitulieren, Mensch!
Nie in der Geschichte war mehr
Spielraum fürs original Menschenmögliche.