
Netzwerk – Getroffen im «Gleis 8»
Die Pflege kann bald
ihre PS auf die Strasse bringen
Basil Höneisen Von der katholischen Krankenschwester
zur Pflege-
und Gesundheitsprofessorin:
Birgit Vosseler hat die
gesamte Karriereleiter der Pflegeszene
erklommen. Sie war schon
in den 1980er-Jahren dabei, als
das Verhältnis zwischen Arzt und
Krankenschwester noch sehr hierarchisch
war – aber auch im 2018,
als Mitentwicklerin des Joint Medical
Masters, der ersten Medizinausbildung
der Ostschweiz. Dieser
Lehrgang ist der Schlüssel zu einer
neuen Ära im Gesundheitswesen.
Vor allem für die Pflege.
Frau Vosseler, welches Bild
haben
Sie vom Beruf
«Krankenschwester
» aus
den 1980er-Jahren?
Birgit Vosseler: Ich war auf einer katholischen
Krankenpflege-Schule in
Dortmund. Weisse Kleider, Unterrock
und Strumpfhosen degradierten
uns zu Schwestern, die auch noch
das Essen für die Patienten zubereiten
mussten.
Das war für mich das klassische,
unterwürfige Frauenbild.
Zeigte sich das auch in der
Zusammenarbeit zwischen
Ärzten und Schwestern?
Vosseler: Und wie. Der chirurgische
Chefarzt sprach zu mir lediglich in
der dritten Person, im Gespräch mit
dem Patienten sagte er: «Gebe sie mir
mal ein Tupfer.» Er schaute mich weder
an noch sprach er zu mir, obwohl
er mich meinte und ich direkt neben
dem Bett stand. Dieses Beispiel versinnbildlicht
die damalige Rollenverteilung.
Es gab also in dem Sinne
keine Zusammenarbeit. Erst im OP
Ende der 1980er-Jahre fing das Miteinander
an.
Und heute? Arbeiten Pflegefachpersonen
und Ärzte auf
Augenhöhe?
Vosseler: Viel mehr als noch vor
35 Jahren. Das hat unter anderem
mit den Kompetenzen der heutigen
Pflegefachperson
zu tun. Die Pflege ist
keine rein dienende Tätigkeit mehr,
sondern vor allem eine fördernde und
begleitende. Pflegende sind oft von
der Aufnahme bis zur Abgabe des
Patienten dabei. Ausserdem führen
anerkannte
Aus- und Weiterbildungen
in Pflege zu mehr Anerkennung.
Brandaktuell auch durch die Vertiefungsrichtungen
im Joint Medical
Master (JMM-SG – siehe Kasten).
Welche Rolle spielt die FHS
im Joint Medical Master?
Vosseler: Die FHS ist eine wichtige
Partnerin für die Interprofessionalität.
Die Medizin-Studierenden belegen
gewisse Module gemeinsam
mit unseren Pflege-Studierenden. Im
Curriculum gibt es das Modul «Medizinische
Grundversorgung & Interprofessionalität
». Dabei lernen die
Studierenden zum Beispiel körperliche
Untersuchungen oder hygienisches
Verhalten – und zwar gemeinsam.
Das ist schweizweit einzigartig.
Werden auch realitätsnahe
Situationen
gemeinsam geübt?
Vosseler: Ja, es gibt konkrete Fallbeispiele.
Stellen Sie sich eine Person mit
einem Harnwegsinfekt vor. Den Studierenden
werden Rollen vergeben, in
diesem Fall Spitex-Mitarbeitende und
Hausarzt. Gemeinsam müssen sie herausfinden,
worum es sich handelt und
welche Massnahmen nun eingeleitet
werden können.
>> Prof. Dr. Birgit Vosseler ist Fachbereichsleiterin Gesundheit an der FHS St.Gallen. In der Arbeitsgruppe «Curriculum» des
Joint Medical Masters hat sie die Interprofessionelle Zusammenarbeit in der medizinischen Grundversorgung entwickelt.
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SUBSTANZ