
Erkenntnis – Nachtarbeit in der Pflege
Nachtstille,
erstillende Nächte
510 Stunden in 51 Nächten hat
Pflegewissenschaftler Thomas
Beer während seines Forschungssemesters
in einem deutschen
Pflegeheim absolviert. Ein
Erfahrungsbericht.
The same procedure as every night:
51-mal bin ich gegen 20:57 Uhr mit der
Buslinie 27 zum Pflegeheim gefahren.
Ich bin in die Funktion eines beruflichen
Nachtdienstlers, einer sogenannten
Dauernachtwache, geschlüpft. Dabei
wollte ich die pflegerischen und
somit auch kommunikativen Handlungsweisen
bzw. Handlungsstrategien
im nächtlichen Umgang mit Personen
mit Demenz in der stationären
Langzeitpflege erschliessen.
***
Ich bin Krankenpfleger und in meiner
Ausbildungs- und Studienzeit leistete
ich bereits Nachtdienste im Akutspital.
Somit hatte ich direkte Erfahrungen
mit charakteristischen Antagonismen
meines derzeitigen Forschungsfeldes.
Dennoch verfüge ich nur über ein begrenztes
Bekanntheitswissen, was im
Nachtdienst passiert, passieren sollte
– oder eben nicht. Deshalb möchte ich
Vertrautheit mit dem «spezialisierten
Sonderwissen» (Sprondel 1979) und
mit den Arbeitspraktiken von beruflichen
Nachtdienstlern und Personen
mit Demenz erhalten. Und genau
deswegen nehme ich an ihrer beruflichen
Praxis teil, indem ich versuche,
ein Mitglied dieser «nächtlichen Gemeinschaft
» zu werden.
***
Ich muss mich also in dieser Nachtwelt
einleben und meine «eigenen
Relevanzen an der Garderobe abgeben
» (Hitzler 2002). Dieses Einschlüpfen
bzw. Passagieren vom nächtlichen
Dabeisein, Teilnehmen, Dazugehören
zum Akzeptiert- und Anerkanntwerden
– also die Entwicklung vom
«Möchtegernmitglied» zum «Mitglied
» (Hitzler & Eisewicht 2016) –
erfolgt in Anlehnung an den von
Anne Honer (1993) entwickelten Forschungsansatz
der lebensweltanalytischen
Ethnographie.
Mein «existentielles Engagement»
(Honer 1993) trägt dazu bei, dass ich
mein eigenes nächtliches Erleben,
meine eigenen nächtlichen Erfahrungen
mit mir und meinem Körper sowie
mit Personen mit Demenz (auch)
als evidentes Datum reflektiere. Die
erlebte und erfahrene Nachtstille und
die beobachteten erstillenden Praktiken,
jene Praktiken, die innere Ruhe
bei den Nachtdienstlern und Unruhe
bei den Personen mit Demenz evozieren,
stehen nun im Fokus meiner ersten
Anmerkungen.
***
Wie immer bin ich mit einer Unlust
zum Nachtdienst gefahren. Was genau
meine Unlust, meine Lustlosigkeit
auslöste, schien – für mich –
seinerzeit evident zu sein. Es waren
jedenfalls nicht die Bewohnenden
und auch nicht meine Kolleginnen
und Kollegen, denn ich freute mich
immer, sie zu sehen. Ich fühlte mich
bereits nach der ersten gemeinsamen
Nacht dazugehörend. Das (gem)einsame
(Be)Wachen, scheint – trotz des
Einzelkämpferdaseins – den Sinn für
Vergemeinschaftung zu fördern. Ich
nahm eine grosse Aufgeschlossenheit
und Offenheit gegenüber meiner
Person und meinem Vorhaben wahr,
ebenso ein ausgeprägtes Wir-Gefühl
innerhalb der nächtlichen Lebens-
und Arbeitsgemeinschaft, das sich in
einer ehrlich und authentisch wirkenden
kollegialen Sorge- und Kommunikationskultur
abbildete. Mir schien,
als wäre ich in einer geschlossenen,
verschworenen «Teil-Zeit-Welt» angekommen,
die Benita Luckmann
(1978) als «kleine Lebens-Welt» bezeichnen
würde. Diese Lebenswelt
be-leben ein interkulturelles
>> Prof. Dr. Thomas Beer ist Dozent für Pflege und Pflegewissenschaft und forscht im Bereich Dementia Care.
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SUBSTANZ